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Gemälde
1942
Walter Spies
(1895 Moskau - 1942 westlich von Nias im Indischen Ozean)
Transformationsakt
Umrahmt von einem langen, zur Seite gezogenen, roten Vorhang gibt der Künstler im Stil des Magischen Realismus eine
vielfigurige Szene wieder. Aus einer teilw. extremen Aufsichtperspektive wird im Vordergrund ein Orchestergraben mit einem
musizierenden, klassischen Orchester dargestellt, während auf der Bühne simultan eine Tänzerin als „Carmen“ auftritt. Dieselbe
erscheint überdies parallel als Aktfigur beim Umziehen hinter einem transparenten Paravent und ihr Gesäß erscheint
im Spiegel ihres Schminktisches. Wäre dies noch nicht surrealistisch genug, so setzt Spies in diesem Bild zusätzlich starke,
räumliche, perspektivische Verzerrungseffekte ein, wodurch die eigentlich sitzenden Musiker zum unteren Bildrand hin für
den Betrachter beinahe zu liegen scheinen. Die dargestellte „Carmen“-Figur dürfte durch die Darstellung der „Carmen“
durch Pola Negri als Femme fatale im berühmten, im Dezember 1918 in Berlin uraufgeführten Film von Ernst Lubitsch
inspiriert sein, die darin ein vergleichbares Kostüm trug. Entstanden um 1920, markiert das bedeutende Gemälde - eines
der frühesten bekannten im Oeuvre des Künstlers - einen Beginn und Wendepunkt in dessen höchst außergewöhnlichem,
bewegtem und abenteuerlichem Leben. Dies führte ihn als Maler, Bühnenbildner, Musiker, Komponist und Fotograf von
Russland über Deutschland bis nach Java und Bali. Spies, als Sohn eines deutschen Großkaufmanns und Vizekonsuls in
Moskau geboren, wuchs zunächst in Russland auf, wo Gorki und Rachmaninow zu den Gästen der elterlichen Soireen
gehörten. Hochbegabt, verarbeitete er bereits als Kind in synästhetischer Weise Klänge in Kunst. In Dresden ging er ab
ca. 1905 auf das elitäre Vitzthum-Gymnasium. Künstlerisch beeindruckten ihn als Primaner außer den Werken von Henri
Rousseau, die er in der Sammlung Schtschukin in Moskau sah, die Maler der Künstlergruppe „Brücke“ und des „Blauen
Reiters“. 1919 fand er in Dresden Anschluss an den Künstlerkreis um Emil Nolde, Max Pechstein, George Grosz, Oskar
Kokoschka, die Dresdener Sezession „Gruppe 1919“ und nicht zuletzt Otto Dix, der ihn - wie er selbst später schrieb - sehr
„anspornt und ermutigt“. Neben Marc Chagall wird Paul Klee in dieserzeit einer der Leitsterne seiner Arbeit. Doch malte
Spies laut eigener Auskunft „nie viel, nicht mehr drei, vier Bilder im Jahr ich hatte seit jeher immer tausend andere Interessen“
(Zit. Spies). Noch in Dresden reüssierte Spies mit Bühnenbildern für Hansums „Spiel des Lebens“ am Schauspielhaus. Im
Frühjahr 1920 lernte Spies den Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau kennen, zu dem sich eine Liebesbeziehung entspann.
Im Winter 1920 siedelte Spies nach Berlin über; Im April 1921 zog Spies in Murnaus luxuriöse Villa in Grunewald, dessen
Wände er fantasievoll mit Jagdszenen im Stil persischer Miniaturen ausmalte - eine bekannte Fotografie zeigt Murnau am
Schreibtisch vor diesen Wandbildern. 1922 stellte Murnau den Filmklassiker „Nosferatu“ fertig, an dem auch Spies als
Assistent beteiligt war. Im Gegenzug sollte Murnaus effektvolle Lichttechnik auch dessen Malstil entscheidend beeinflussen.
Spies eigene künstlerische Karriere verzeichnete in jener Zeit erste Ausstellungserfolge. Im März/April 1923 beteiligte
er sich erfolgreich mit 11 Gemälden an der Jahresausstellung des Hollandschen Kunstenaars Kring im Stedelijk Museum
in Amsterdam. Hierzu gehörte auch das Bild „Baschkirischer Hirte“, welches er Géla Forster (Ehefrau Alexander Archipenkos)
verkauft hatte. Die „Novembergruppe“ zählte Spies zu den ihrigen, 1924 und 1926 stellte Spies drei Werke in
deren Abteilung auf der Großen Berliner Kunstausstellung aus; 1925 nahm ihn Franz Roh mit vier Gemälden in sein Buch
„Nachexpressionismus. Magischer Realismus (...)“ auf. Zuvor hatte Spies bereits Deutschland verlassen - auf der Suche
nach Freiheit und Glück. 1923 heuerte Spies als Matrose auf einem Dampfschiff in Richtung Niederländisch-Indien an,
wo er im Oktober die Hauptstadt Batavia (Jakarta) auf Java erreichte. Dort bestritt er seinen Lebensunterhalt vornehmlich
als Musiker, ab 1924 am Hof des Sultans von Yogyakarta. 1927 fand der Maler sein persönliches Paradies auf Bali, das
er zugleich in fantasievolle Bilder umsetzte. Zusammen mit dem niederländischen Maler Rudolf Bonnet reformierte Spies
die balinesische Malerei und gründete die Künstlerorganisation Pita Maha, die sich für indonesische Künstler einsetzte.
Sein Haus wurde zum Treffpunkt der internationalen Prominenz: Charlie Chaplin gibt bei Spies das Gemälde „Rehjagd“ in
Auftrag, Vicki Baum schrieb dort ihren Bestseller „Liebe und Tod auf Bali“; er zog Barbara Hutton, die damals reichste Frau
der Welt, Ethnologen und Komponisten, Filmer, Forscher, Aristokraten und Neureiche, die sich zunehmend für seine Bilder
interessieren, auf die Insel. Ab 1935 kippte das Schicksal für Spies - er erlebte zunehmend Anfeindungen als Homosexueller,
Silvester 1938 nahm man ihn wegen „unmoralischen Verhaltens“ für acht Monate in Gewahrsam; im Januar 1942
starb er schließlich mit über 400 anderen deutschen Internierten auf einem Frachtschiff nach einem japanischen Angriff.
Öl/Papier, auf Karton kaschiert. 58 cm x 47 cm. Rahmen.
Provenienz: Geschenk des Künstlers an Friedrich Wilhelm Murnau (1881-1931) in der Zeit 1920-1923; in Erbfolge
innerhalb der Familie Murnau an die heutigen Besitzer.
Ausstellungen: 2012-2018 Hamburger Kunsthalle; 2018 Hamburger Bahnhof, Berlin.
Lit./Ausstellungskatalog: „Hello World - Revision einer Sammlung“, Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart - Berlin, Hrsg. Udo Kittelmann u.
Gabriele Knapstein, München, Hirmer, 2018, S. 402, Abb. S. 21, 108 (Nr. 17).
Allgemeine Lit.: Hans Rhodius: „Walter Spies (...)“, Den Haag, 1964; Michael Schindhelm: „Walter Spies. Ein exotisches Leben“, München, 2018;
Klaus Huneke: „Géla Forster-Walter Forster - lieben ohne zu fordern“, Norderstedt, 2020.
Oil on paper, laid down on cardboard. 58 cm x 47 cm.
€ 300.000,–/€ 500.000,–